Man erfuhr es über Funk. Matrosen trugen die Nachricht zu den Passagieren. Ein Riss soll den Kontinent, den das Schiff ansteuerte, in neue Erdteile zerlegt haben. Die Glutmassen, mit Wucht aus dem Erdinneren gehoben, sollen so stark gewesen und so plötzlich über alles gekommen sein, dass Millionen Wesen und Tausende Arten den Notruf nicht mehr vernehmen konnten. Eine Rauchwolke, die derzeit in ätherische Höhen ziehe, trage nun das Omen mehrjähriger Finsternis mit sich. Und von der Bruchstelle des Planeten soll eine Flutwelle ungeheueren Ausmaßes emporgestiegen sein, die ihren Siegeszug bereits angetreten hätte. Welch ein Ausblick!
Seine Hände umklammerten die Reling. Wann die Welle das Schiff erreichen würde, war ungewiss. Es handele sich aber nur um Stunden, so die flüsternden Boten in Uniform. Er
schloss die Augen, atmete durch, konnte das Traurige des neuartigen Umstandes nicht wachrufen, blickte wieder hinaus, schluckte und blieb der freie Gefangene einer fernen
Ursache, die sich ihm als ungeheure Offenbarung mitgeteilt hatte. Riss, Glutmassen, Zerstörung, Flutwelle - es erschreckte ihn nicht. Das Ziel seiner Reise war bereits der Tod.
Nur der Ort hatte sich jetzt geändert. Aus dem Hafen, den er noch erreichen wollte, war nun der Ozean geworden. Die Verlagerung der Koordinaten tat so wenig zur Sache wie die
Änderung des Zeitpunkts. Der Tod hatte bereits vor der Reise unwiderruflich für ihn festgestanden. Aber die Entscheidung, es selbst zu vollenden, war ihm nun genommen. Es sei
denn, er handelte sofort. Doch das passte nicht zu ihm. Er wollte aus freien Stücken gehen. Dazu gehörte auch der zeremonielle Charakter, den er dem Ritual in seiner
Vorstellung verliehen hatte. Aber auch darauf könnte er verzichten. Es galt, sich zu entscheiden. Sich der jetzigen Situation zu beugen, bedeutete, durch übermächtige Naturen
gezwungen zu werden. Plötzlich sollte er mit denen in einen Bund treten, die am Leben hingen. Welche Gleichsetzung wäre widersprüchlicher als diese. Dass die sich erbarmenden
Mörder, die Viel-Kinderkrieger oder reichlich Verdrängenden, die ängstlich Gepaarten oder traurig sich Verlaufenden, die pragmatisch Tönenden und die kalkuliert Berechnenden
sich genau in jenem Augenblick mit ihm verbinden würden, in dem er sich von ihnen verabschieden wollte, wäre nicht nur absurd, es wäre seiner Haltung unwürdig. Ihm wurde
schwindlig. Er klammerte sich an das Stahlrohr der Reling und musste sich übergeben.
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Die Vorkommnisse in meiner Wohnung, die dem Roman zum großen Teil seine Grundlage geben, sind so real wie die Wirklichkeit. Die Wohnung, meine beiden Katzen, die Anordnung der Möbel, der Blick vom Fenster auf drei Hinterhöfe, die Bücher, die ich besitze, ja alles, was dieser Fremde benennt, gleicht meinem Lebensraum aufs Haar.
Beim Lesen des Romans war mir immer der Gedanke nah, dass all das, was dieser Jemand notierte, mein Noch nichtgeschriebenes-Werk sein könnte. Als hätte ein Engel den Stift in die Hand genommen und mit der Zunge der Zukunft meine Worte empfangen und notiert.
Um es noch einmal zu wiederholen: Für die kommenden Seiten ist jemand verantwortlich, dessen Motivation ich in keiner Weise nachvollziehen kann.
Dieser Vorfall wäre auch kein Grund für Überschwänglichkeiten von anhaltender Dauer, denn ich hätte die Schrift irgendwann irgendwohin verstaut und sie wäre vergessen, wenn
nicht zwei Tage nach meiner Rückkehr der Lektor eines großen Verlages bei mir angerufen hätte, um mich zu fragen, ob ich der Autor des Romans ›Asche‹ sei.
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Musik lief im Hintergrund, ein Sampler. Ruhige Songs - Leonard Cohen, Nick Cave, Mozart. Auf dem Bett schliefen zwei Katzen. Sie lagen zusammengerollt und dicht aneinandergedrängt. Durch die geöffneten Fenster schlich warme Sommerabendluft ins Gemäuer. Kerzenschein mischte sich mit dem gelblichen Licht der Schreibtischlampe. Nachdenkliche, ruhige, fast romantische Atmosphäre vernebelte die beiden Räume. »Gott sitzt auf einem zeit- und raumlosen Stuhl im Weltall«, flüsterte Asche. Im selben Augenblick verlosch eine der Kerzen. »Mist. Wenn das mal kein Wink war.« Mit diesen Worten legte Asche seine rechte Hand aufs Herz, als Zeichen der Entschuldigung vor der Allmacht der Welten. Er nickte drei Mal dem Fußboden zu, damit sich kein böses Omen seiner bemächtige. Verträumt blickte er dann auf die erloschene Kerze und etwas später zu seinen Katzen, die die Inkarnation Gottes als Kerzenauslöscher nicht mitbekommen hatten. Während die Instinktwesen weiterschliefen, goss sich Asche noch ein Glas Weißwein ein.
»Wieder so’n Ding: Ich rutsche vom Rand meines Innern ab, um am Rand meines Innern aufzuschlagen.« Wer sich eine Zigarette dreht, hat was zu tun, dachte er, folgte seiner Eingebung, lehnte sich im Sessel zurück, zündete sich die Selbstgebaute an, sah auf das Bücherregal im Nebenzimmer: Poe, Kant, Horaz, Koltès, Pound …, »puuuhh, eh«, richtete seine Augen auf die linke Hand, musste aber den Gedanken über das Unmaß an gebundenem Papier auf Holzbrettern in seiner Wohnung noch mit einem Kopfschütteln kommentieren und blieb mit seinem Blick an den geschwollenen Adern, die unter der Haut seines Handrückens pochten, hängen.
Asche blies den Zigarettenrauch Richtung offenes Fenster. Er war nicht mehr wirklich Herr seiner Sinne. In angetrunkenem Zustand ging es in ihm stets etwas schräger umher als gewöhnlich. Eine Zigarettenlänge in solch einer Situation konnte eine Tabula rasa gedanklicher Assoziationen en miniature auslösen. Für niemanden nachzuvollziehen und selbst für Asche nicht wiederholbar. Resultat der heutigen gedanklichen Verknüpfungen war dann immerhin ein Satz: »Disziplin ist das Scheißhaus der Moral.« Den schrieb er dann auch auf einen Zettel.
Asche fluchte und stand auf. Er setzte sich wieder. »Ruhig, Brauner.« Stand erneut auf, zog mit seinem Weinglas vom Sessel zum Schreibtischstuhl um, setzte das Weinglas auf dem Schreibtisch ab, lehnte sich im komfortablen Lederstuhl zurück, und zwar so weit, dass seine Beine in der Luft hingen, sah durch das geöffnete Fenster das Licht in der Küche der Nachbarin im Vorderhaus, dann den eigenen Fensterrahmen, dann die Risse im Lack des Rahmens. Und dann einen einzigen Riss, und dann, wie er den Riss mit einem Spachtel aufbrach und darunter das faule Holz entdeckte ...
Und dann ...
Schwerelos.
Eine Wüste aus Luft.
Die Wüste ist rundherum. Man kann sich drehen, wohin man will: Wüste. Gelbes sandiges Meer, das auch im Rot, auch im Schwarz versinken kann, je nachdem wie das Licht in die Dinge dringt. Unendliche Ruhe.
Nur das Rauschen im eigenen Ohr macht nicht mit.
Der Atem geht langsam und tief. Der Schlag des Herzens wird leise. Es scheint, als wolle es einschlafen. Das Blut schleicht durchs Adergestrüpp. Langsam. Sehr still.
Es ist sehr, sehr ruhig.
Asche holte tief Luft, nahm einen Zug von der Zigarette, blies nachdenklich den Rauch auf das weiße Blatt Papier, das vor ihm auf dem Schreibtisch lag, nahm den Stift zur Hand und schrieb, als hätte er es auswendig gelernt, Folgendes zügig nieder:
Der Weg führte ihn ins ›Baal‹, eine Bar, die sich im gegenüberliegenden Haus befand. Sehr praktisch, weil dicht gelegen, sehr angenehm, weil gemütlich. Und obendrein auch noch sehr unterhaltsam, weil dort immer jemand anzutreffen war, dem Asche seine Weltsicht buchstabieren konnte, wenn er denn Lust dazu verspürte.
Doch nichts war super. Das larmoyante Loch war leer. In der Zwanzigerjahre-Bar des Jahres 2009 außer der Bedienung keine Seele! »Scheiße. Aber, na ja ... Machst mir ’nen Osborn, Mara, ja? Und ’nen Kaffee?« Da saß er nun, redete mit ihr, vergaß das Geschriebene, die Katzen, die tobsüchtige Nachbarin, und saß. Saß eben. Schaute. »Noch einen, ja, Mara?« Und saß, bis es hell wurde.
Unterm warmen Wasser stehend fummelte er an seinem Joseph, dachte dabei an die Schwester einer Ex und deren enorme Rundungen. Es geschah zum zigsten Mal, dass sie ihm den Gefallen tat, sich mit ihren Fingern auf seinen Joseph zu schleichen, um ihm diesen ewigen Wunsch zu gewähren ...
Nach dem Zähneputzen trank Asche einen Espresso, quatschte mit seinen beiden Katzen lieblich-wirres Zeug, zog sich nebenbei an, verließ die Wohnung und drehte von außen den Schlüssel herum.
Er hatte eben einen Hang zum Leid. Das machte Asche nicht unlieb. Man kann sagen, dass seine Umwelt ihn mochte, oder besser, nicht verdammte. Er war dort, wo man ihn kannte - und das war vor allem im ›Baal‹ -, gern gesehen. Geliebt eher nicht. Dazu fehlte ihm wohl auch ausreichend Speichel. Er war kein Mittelmaß. Darauf war er auch stolz. Er betonte das nicht, aber wenn er Dinge sagte wie: »Der Kleinbürger hat die Gabe, Genuss auf ein Minimum zu reduzieren«, dann hing sich keine Frau um seinen Hals, die auf Familie scharf war, sondern eher eine, die Familie hatte.
Das heißt aber nicht, dass Asche nicht liebesfähig war. Im Gegenteil. Es gab wohl kaum einen, der sich so heftig in eine Frau verlieben konnte wie er. In solchen Zeiten war er ... Ja, wie war er? Da war er ganz erfüllt von der Frau, die er wollte, die er bis in den letzten Nagel ihres Kreuzes begehrte. Er stand mit ihr auf, obwohl sie nicht anwesend war, er konnte nicht frühstücken ohne sie, nicht frühstücken mit ihr. Ihm ging die banale ...
Und wie oft hat er der Geliebten im Wahnsinn seiner Liebe immer und immer wieder Shakespeare zitiert: »Es war die Nachtigall und nicht die Lerch, die eben grad dein banges Ohr durchdrang.« Und: »Nein, es war die Lerch, die Tagverkünderin. Bleib hier, Geliebter«. Momente, in denen Asche alle Rollen übernahm.
So voll von Liebe war er, dass ihm das nicht ausreichte. Er kam auf Aischylos, Euripides, Sophokles, Goethe, Büchner, den tragischen Lenz, Brecht, den Whisky trinkenden Müller und am Ende eben auf das Schicksal überhaupt, dass der Mensch sich in seiner Tragik verdient hat. Dass er nicht raus kann aus der Rolle der Verdammnis, dieser kleine zweibeinige Hybrid. Und das machte Asche sympathisch, ehrlich, süß.
Er hatte Frauen, mit denen er in Liebe war, die trugen einen riesigen Sack Energie von ihm mit fort. Bei manchen hat es für Jahre gereicht. Bei Asche eben nur für Wochen. So schnell das gigantische Gefühl der Liebe und des Begehrens kam, so dumpf stand er irgendwann neben sich, nichts mehr spürend, wieder zu sich kommend, Zeit auch wieder für sich in Anspruch nehmen müssend, weil doch er auch atmet, riecht, spürt. Oder, um es mit Büchner besser zu sagen, »es in ihm hurt, raubt und mordet«. Ja, dafür fehlte Asche Zeit. Es war Zeit, die er brauchte. Die Energie war erschöpft, das Kraftwerk auf null, die Geliebte auf einer Kompliziert-sein-Tour.
So war es einst. Heute hält er nicht mehr viel von Liebe. Ihm sei das zu anstrengend, sagte er einmal bei guter Laune.