Romanauszug »

Asche
Detlef Schulze

Was wäre,
wenn ich mich verlöre
und nicht wiederfände.
Für immer.

Asche
Detlef Schulze

Und so lang du das nicht hast,
Dieses: Stirb und werde!
Bist du nur ein trüber Gast
Auf der dunklen Erde.

Johann Wolfgang von Goethe,
West-östlicher Divan









Er befand sich auf dem falschen Schiff. Nie ist ein Ozean so furchterregend gewesen. Einsetzende Stille schien sich mit den Schrecken des Untergangs zu verbinden und der Untergang mit windloser Zeit, die genau in diesem Moment ihr tickendes Uhrwerk zerbrach: Die Erdmacht, die in zweitausend Seemeilen Entfernung seit Gedenken Halt und Sicherheit verliehen hatte, war aus ihren Tiefen hervorgebrochen.

Man erfuhr es über Funk. Matrosen trugen die Nachricht zu den Passagieren. Ein Riss soll den Kontinent, den das Schiff ansteuerte, in neue Erdteile zerlegt haben. Die Glutmassen, mit Wucht aus dem Erdinneren gehoben, sollen so stark gewesen und so plötzlich über alles gekommen sein, dass Millionen Wesen und Tausende Arten den Notruf nicht mehr vernehmen konnten. Eine Rauchwolke, die derzeit in ätherische Höhen ziehe, trage nun das Omen mehrjähriger Finsternis mit sich. Und von der Bruchstelle des Planeten soll eine Flutwelle ungeheueren Ausmaßes emporgestiegen sein, die ihren Siegeszug bereits angetreten hätte. Welch ein Ausblick!

Seine Hände umklammerten die Reling. Wann die Welle das Schiff erreichen würde, war ungewiss. Es handele sich aber nur um Stunden, so die flüsternden Boten in Uniform. Er schloss die Augen, atmete durch, konnte das Traurige des neuartigen Umstandes nicht wachrufen, blickte wieder hinaus, schluckte und blieb der freie Gefangene einer fernen Ursache, die sich ihm als ungeheure Offenbarung mitgeteilt hatte. Riss, Glutmassen, Zerstörung, Flutwelle - es erschreckte ihn nicht. Das Ziel seiner Reise war bereits der Tod. Nur der Ort hatte sich jetzt geändert. Aus dem Hafen, den er noch erreichen wollte, war nun der Ozean geworden. Die Verlagerung der Koordinaten tat so wenig zur Sache wie die Änderung des Zeitpunkts. Der Tod hatte bereits vor der Reise unwiderruflich für ihn festgestanden. Aber die Entscheidung, es selbst zu vollenden, war ihm nun genommen. Es sei denn, er handelte sofort. Doch das passte nicht zu ihm. Er wollte aus freien Stücken gehen. Dazu gehörte auch der zeremonielle Charakter, den er dem Ritual in seiner Vorstellung verliehen hatte. Aber auch darauf könnte er verzichten. Es galt, sich zu entscheiden. Sich der jetzigen Situation zu beugen, bedeutete, durch übermächtige Naturen gezwungen zu werden. Plötzlich sollte er mit denen in einen Bund treten, die am Leben hingen. Welche Gleichsetzung wäre widersprüchlicher als diese. Dass die sich erbarmenden Mörder, die Viel-Kinderkrieger oder reichlich Verdrängenden, die ängstlich Gepaarten oder traurig sich Verlaufenden, die pragmatisch Tönenden und die kalkuliert Berechnenden sich genau in jenem Augenblick mit ihm verbinden würden, in dem er sich von ihnen verabschieden wollte, wäre nicht nur absurd, es wäre seiner Haltung unwürdig. Ihm wurde schwindlig. Er klammerte sich an das Stahlrohr der Reling und musste sich übergeben.
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Asche
Detlef Schulze



Du bist mir innerer als mein Innerstes.

Augustinus








Der Autor der folgenden abstrusen Geschichte ist nicht bekannt. Ich fand nach einem dreiwöchigen Urlaub in der Südsee ein Manuskript in meiner Wohnung, das, nachdem ich es gelesen hatte, mich zwar sehr beeindruckte, aber dennoch meiner Autorenschaft, die es auf dem Titelblatt propagierte, entbehrte. Der Mensch, der das Folgende zu Papier gebracht hatte, war und ist mir unbekannt. Nachforschungen meinerseits, den Autor zu eruieren, führten zu keinem befriedigenden Ergebnis. Nach wie vor bin ich nicht sicher, wer in dieser Detailtreue so über mich nachdenken konnte. Mir sind dieser eigenwillige Roman und sein Schöpfer ein Rätsel, zumal auch deshalb, weil ich selbst der Autor hätte sein müssen, so nah ist mir all das, was dieser Fremde über mich niederschrieb.

Die Vorkommnisse in meiner Wohnung, die dem Roman zum großen Teil seine Grundlage geben, sind so real wie die Wirklichkeit. Die Wohnung, meine beiden Katzen, die Anordnung der Möbel, der Blick vom Fenster auf drei Hinterhöfe, die Bücher, die ich besitze, ja alles, was dieser Fremde benennt, gleicht meinem Lebensraum aufs Haar.

Beim Lesen des Romans war mir immer der Gedanke nah, dass all das, was dieser Jemand notierte, mein Noch nichtgeschriebenes-Werk sein könnte. Als hätte ein Engel den Stift in die Hand genommen und mit der Zunge der Zukunft meine Worte empfangen und notiert.


Nach drei Wochen Urlaub in der Südsee schloss ich meine Wohnungstür in Berlin auf. Die beiden Katzen, die zu meinem Leben gehören, kamen auf mich zu, miauten, beschnupperten mich und rieben sich an mir. Der Mensch, oder besser gesagt, der Mann, der sich während meiner Abwesenheit um die vierbeinigen Weichfelle gekümmert hatte, war zwar bei meiner Ankunft nicht anwesend, doch konnte er nicht der Autor des Folgenden sein. Treue und Einfachheit sprachen in einer derartig erschlagenden Klarheit aus ihm, dass ein Gedanke, ein Satz mit Nebensatz schon nicht mehr mit seinem Intellekt vereinbar schienen. Ich nahm ihn zwar, als wir uns später sahen, ins Kreuzverhör: »Was ist das für ein Manuskript? Wer hat es geschrieben? Bist du eventuell jemand, den ich unterschätzt habe?« Doch er schüttelte nur den Kopf und sah mich an, als hätte mir die Südsee den Rest gegeben. Er kannte das Manuskript nicht und beteuerte, dass es während der Zeit, als er die Katzen versorgte, nicht in der Wohnung gelegen hätte.

Um es noch einmal zu wiederholen: Für die kommenden Seiten ist jemand verantwortlich, dessen Motivation ich in keiner Weise nachvollziehen kann.

Dieser Vorfall wäre auch kein Grund für Überschwänglichkeiten von anhaltender Dauer, denn ich hätte die Schrift irgendwann irgendwohin verstaut und sie wäre vergessen, wenn nicht zwei Tage nach meiner Rückkehr der Lektor eines großen Verlages bei mir angerufen hätte, um mich zu fragen, ob ich der Autor des Romans ›Asche‹ sei.
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Asche
Detlef Schulze



Narziss:
Lieber sterb ich, als dass ich sage,
ich gebe dir Macht über mich.

Echo:
Ich gebe dir Macht über mich.

John Hollander -
The Figure of Echo









Die Kopie pflückt mehr Äpfel als das Original

Eines fehlt mir, dachte Asche: eine Taschenlampe. Er ging zum Küchenschrank, kramte eine Stablampe hervor, knipste sie an, ließ deren Strahl an der Zimmerdecke entlangwandern und sagte: »Wenn ich mit dir durch die unendlichen Weiten des Universums ziehen könnte und du mir jede Galaxie, jedes Schwarze Loch, jede Dimension ausleuchten würdest, müssten wir auch in irgendeiner Ecke auf Gott stoßen. Vielleicht sitzt er gelangweilt und missmutig auf einem zeit- und raumlosen Stuhl, hält einen winzigen Gegenstand von unendlicher Dichte in den Händen, der mit bloßem Auge nicht zu erkennen ist, und denkt darüber nach, ihn einfach in ein neues Universum zu transformieren, um noch einmal von vorn zu beginnen.« Asche grinste schelmisch.

Musik lief im Hintergrund, ein Sampler. Ruhige Songs - Leonard Cohen, Nick Cave, Mozart. Auf dem Bett schliefen zwei Katzen. Sie lagen zusammengerollt und dicht aneinandergedrängt. Durch die geöffneten Fenster schlich warme Sommerabendluft ins Gemäuer. Kerzenschein mischte sich mit dem gelblichen Licht der Schreibtischlampe. Nachdenkliche, ruhige, fast romantische Atmosphäre vernebelte die beiden Räume. »Gott sitzt auf einem zeit- und raumlosen Stuhl im Weltall«, flüsterte Asche. Im selben Augenblick verlosch eine der Kerzen. »Mist. Wenn das mal kein Wink war.« Mit diesen Worten legte Asche seine rechte Hand aufs Herz, als Zeichen der Entschuldigung vor der Allmacht der Welten. Er nickte drei Mal dem Fußboden zu, damit sich kein böses Omen seiner bemächtige. Verträumt blickte er dann auf die erloschene Kerze und etwas später zu seinen Katzen, die die Inkarnation Gottes als Kerzenauslöscher nicht mitbekommen hatten. Während die Instinktwesen weiterschliefen, goss sich Asche noch ein Glas Weißwein ein.

»Wieder so’n Ding: Ich rutsche vom Rand meines Innern ab, um am Rand meines Innern aufzuschlagen.« Wer sich eine Zigarette dreht, hat was zu tun, dachte er, folgte seiner Eingebung, lehnte sich im Sessel zurück, zündete sich die Selbstgebaute an, sah auf das Bücherregal im Nebenzimmer: Poe, Kant, Horaz, Koltès, Pound …, »puuuhh, eh«, richtete seine Augen auf die linke Hand, musste aber den Gedanken über das Unmaß an gebundenem Papier auf Holzbrettern in seiner Wohnung noch mit einem Kopfschütteln kommentieren und blieb mit seinem Blick an den geschwollenen Adern, die unter der Haut seines Handrückens pochten, hängen.

Asche blies den Zigarettenrauch Richtung offenes Fenster. Er war nicht mehr wirklich Herr seiner Sinne. In angetrunkenem Zustand ging es in ihm stets etwas schräger umher als gewöhnlich. Eine Zigarettenlänge in solch einer Situation konnte eine Tabula rasa gedanklicher Assoziationen en miniature auslösen. Für niemanden nachzuvollziehen und selbst für Asche nicht wiederholbar. Resultat der heutigen gedanklichen Verknüpfungen war dann immerhin ein Satz: »Disziplin ist das Scheißhaus der Moral.« Den schrieb er dann auch auf einen Zettel.

Asche fluchte und stand auf. Er setzte sich wieder. »Ruhig, Brauner.« Stand erneut auf, zog mit seinem Weinglas vom Sessel zum Schreibtischstuhl um, setzte das Weinglas auf dem Schreibtisch ab, lehnte sich im komfortablen Lederstuhl zurück, und zwar so weit, dass seine Beine in der Luft hingen, sah durch das geöffnete Fenster das Licht in der Küche der Nachbarin im Vorderhaus, dann den eigenen Fensterrahmen, dann die Risse im Lack des Rahmens. Und dann einen einzigen Riss, und dann, wie er den Riss mit einem Spachtel aufbrach und darunter das faule Holz entdeckte ...

Und dann ...


Es ist nicht, wie es ist. Aus einem Brunnen steigt Rauch, obwohl kein Brunnen zu sehen ist. Der Rauch macht leicht. Man will sich setzen. Doch man kann sich nicht setzen. Da ist nichts, worauf man sich setzen könnte. Nirgendwo ein Halt.

Schwerelos.


Asche war gut drauf.

Aber auch nicht völlig schwerelos. Der Himmel ist ein Meer aus Schaum. Es wächst der Wunsch, sich zu legen; einfach hinzulegen. Die Liege ist ein Himmel aus Sand. Das Liegen und Denken ist Luft.

Eine Wüste aus Luft.

Die Wüste ist rundherum. Man kann sich drehen, wohin man will: Wüste. Gelbes sandiges Meer, das auch im Rot, auch im Schwarz versinken kann, je nachdem wie das Licht in die Dinge dringt. Unendliche Ruhe.

Nur das Rauschen im eigenen Ohr macht nicht mit.

Der Atem geht langsam und tief. Der Schlag des Herzens wird leise. Es scheint, als wolle es einschlafen. Das Blut schleicht durchs Adergestrüpp. Langsam. Sehr still.

Es ist sehr, sehr ruhig.


Asche schnalzte mit der Zunge. Das Schnalzen trennte ihn von seinen Gedanken. »Sand, Stille«, flüsterte er. Dann verzog sich das Wüstenstillleben, das ihn soeben noch durchdrungen hatte, wie Rauch in alle Winde, und er bewegte seine Augen weg vom Riss im Lack des Fensterrahmens, in dem das eben Geschehene erblüht war. »Man spricht nicht über die Dinge. Die Dinge sprechen über sich«, sagte er laut. Dann leiser: »Dagegen ist nichts zu machen.« Jeder, der unterwegs ist, der sitzt, der schläft, hört die Dinge, ob er Lust dazu hat oder nicht. Jeder ist ein Kanal, eine frisch geteerte Straße, ein neu erbautes Haus, ein noch fahrendes Auto, ein Faden der Klotho, den Lachesis in ihre Bahn lenkt und den Atropos einfach zerschneidet. Ein Faden, gesponnen aus dem Irrsinn des Schicksals oder aus der Tiefe des Glaubens.

Asche holte tief Luft, nahm einen Zug von der Zigarette, blies nachdenklich den Rauch auf das weiße Blatt Papier, das vor ihm auf dem Schreibtisch lag, nahm den Stift zur Hand und schrieb, als hätte er es auswendig gelernt, Folgendes zügig nieder:


In den Fernen der Zeit liegen die Fernen der Lichter. Nichts scheint angenehmer als die Melancholie vergangener Bilder und nichts aufregender als die unsichere Wollust des Kommenden. Dieser Grund spürt sich geisterhaft auf. Man kann ihn und er sich nicht verschwinden lassen. Jedem Kind ist er gegeben, jedes reife Wesen bleibt mit ihm unterwegs und jeder Greis sieht ihn nicht vergehen. In uns tickt die Gesamtheit der Welt im rhythmischen Treiben der Aufgaben. Nur wenige sehen im Fluss das Wasser sich wässernd verflussen im nassen sich bewegenden zeitlosen Licht, das dem Dunkel der trockenen Wüsten in allem Dürstenden gleicht. Denn wahrscheinlich ist, dass kein Bild dem anderen gleicht. Das Spiegelbild sticht den Spargel nicht besser, die Kopie pflückt immerhin mehr Äpfel als das Original und Janus weiß mehr als der Schöpfer. Alles Bewegliche auf dem netzhäutigen Auge ist im Besitz einer präsenten Aufgabe, die immer von Neuem dem Bewältigen vieler Geschehen unterliegt, aber sich in den Fernen der Zeit verläuft. Wir scheinen lediglich ein Beispiel des Fassbaren zu sein in unserer mosaikartigen Aussage. Eine Geschichte erzählt sich aus ihrem Grund. Ihre Nähe zu den Umfängen der Welten beschreibt ihre Dichte. Denn der, der erzählt, erzählt nicht vom Hier, weil er der Ferne des Eigentlichen so nahe ist.

Asche war schon etwas benommen. Wieder einmal sinnierte er vor sich hin, sprach dabei leise seine Gedanken aus, wobei er sich die fortwährend von der Nase rutschende Brille hochschob. Er saß am Schreibtisch. Die angebrochene Flasche Weißwein - es war die dritte - neben dem gefüllten Aschenbecher berührte das geleerte Glas. Ich habe geschrieben, dachte er, und überflog die Zeilen. Die Geschichten ähneln sich. Alles ist mal wieder wahr. Er erhob sich taumelnd, ging aufs Klo, ließ einen Großteil der zweieinhalb Flaschen Wein in die unendlichen Weiten der Kanalisation entweichen, nahm sein Jackett vom Bügel, warf es sich über die Schulter und schloss die Tür.

Der Weg führte ihn ins ›Baal‹, eine Bar, die sich im gegenüberliegenden Haus befand. Sehr praktisch, weil dicht gelegen, sehr angenehm, weil gemütlich. Und obendrein auch noch sehr unterhaltsam, weil dort immer jemand anzutreffen war, dem Asche seine Weltsicht buchstabieren konnte, wenn er denn Lust dazu verspürte.


So schwungvoll er es im angetrunkenen Zustand noch vermochte, nahm er die Treppen des Hausflurs, summte irgendwelchen Blödsinn und tänzelte über den Hof. Er trat auf Scherben und wunderte sich. Der Hof war mit Hausrat übersät. Tassen, Teller, ...



Dass
kein Bild
dem anderen
gleicht.
 
... Gläser, ein zerbrochener Spiegel, Handtücher, Kleidung, Töpfe und vieles mehr. Dann hörte er eine Frauenstimme schreien. Asche sah zur Wohnung im Erdgeschoss. Die Nachbarin rannte tobsüchtig herum, keifte ihren Partner an, und schwupps flog ein Topfdeckel auf Asche zu. Er konnte sich gerade noch ducken. Mann, oh Mann, dachte er. Von wem wird die denn gerade geritten? Da er sie gut kannte, wollte er hingehen, um zu fragen, was denn los sei. Als er aber hörte, dass sie ihren Partner mit »Schwanzlutscher! Du und dein kleines Ding! Die Olle willste ficken? Dass ich nicht lache …! Oder haste schon?« beschimpfte, und dann erneut eine Tasse aus dem Fenster flog, dachte Asche: Nö, nicht jetzt, ist mir zu fett. Er verließ das Haus, schritt quer über die Straße, riss die Tür vom ›Baal‹ auf, und schwupp, vier Stufen hinab: Bryan-Ferry-Musik ... Alles super.

Doch nichts war super. Das larmoyante Loch war leer. In der Zwanzigerjahre-Bar des Jahres 2009 außer der Bedienung keine Seele! »Scheiße. Aber, na ja ... Machst mir ’nen Osborn, Mara, ja? Und ’nen Kaffee?« Da saß er nun, redete mit ihr, vergaß das Geschriebene, die Katzen, die tobsüchtige Nachbarin, und saß. Saß eben. Schaute. »Noch einen, ja, Mara?« Und saß, bis es hell wurde.


Der nächste Tag war einer, der von wenigem Schlaf und einer kurzen schweren Nacht zu leben hatte, von zerrissenen Träumen, dumpfem Schnarchen, das Mund- und Nasenraum trocken und verklebt in die Helligkeit schickte, und ein Gesicht auf diese Welt losjagte, das erst einmal gemocht werden wollte. Aber der Spiegel sagte Asche so etwas nicht. Er sah verlebt aus. »Ja, geb ich zu.« Aber sonst? »Ich hab keinen Bock zu duschen.«

Unterm warmen Wasser stehend fummelte er an seinem Joseph, dachte dabei an die Schwester einer Ex und deren enorme Rundungen. Es geschah zum zigsten Mal, dass sie ihm den Gefallen tat, sich mit ihren Fingern auf seinen Joseph zu schleichen, um ihm diesen ewigen Wunsch zu gewähren ...

Nach dem Zähneputzen trank Asche einen Espresso, quatschte mit seinen beiden Katzen lieblich-wirres Zeug, zog sich nebenbei an, verließ die Wohnung und drehte von außen den Schlüssel herum.


Asche ist Schriftsteller. Als er noch jünger war, hatte er Dramen geschrieben. Eins über den Fall der Mauer, eines über den Untergang des Ostblocks, eins über einen russischen Serienmörder, eines über den westdeutschen Terrorismus, das er für sein misslungenstes hielt, eins mit bitterbösen Dialogen über eine vergangene vergessene Beziehung, das er im Rokoko stattfinden ließ, und eines über einen naiven jungen Mann vom Dorf, der sich in ein Mädchen aus der Kleinstadt verliebt. Alle Dramen enden tragisch. So war Asche. Am Ende gab es keinen Ausweg. Obwohl er sich immer wieder am Schopf packte und aus dem Sumpf zog. Aber das vergaß er manchmal, oder nein: Er schob es weg, denn das war ihm nicht wichtig.

Er hatte eben einen Hang zum Leid. Das machte Asche nicht unlieb. Man kann sagen, dass seine Umwelt ihn mochte, oder besser, nicht verdammte. Er war dort, wo man ihn kannte - und das war vor allem im ›Baal‹ -, gern gesehen. Geliebt eher nicht. Dazu fehlte ihm wohl auch ausreichend Speichel. Er war kein Mittelmaß. Darauf war er auch stolz. Er betonte das nicht, aber wenn er Dinge sagte wie: »Der Kleinbürger hat die Gabe, Genuss auf ein Minimum zu reduzieren«, dann hing sich keine Frau um seinen Hals, die auf Familie scharf war, sondern eher eine, die Familie hatte.

Das heißt aber nicht, dass Asche nicht liebesfähig war. Im Gegenteil. Es gab wohl kaum einen, der sich so heftig in eine Frau verlieben konnte wie er. In solchen Zeiten war er ... Ja, wie war er? Da war er ganz erfüllt von der Frau, die er wollte, die er bis in den letzten Nagel ihres Kreuzes begehrte. Er stand mit ihr auf, obwohl sie nicht anwesend war, er konnte nicht frühstücken ohne sie, nicht frühstücken mit ihr. Ihm ging die banale ...




Unterm
warmen
Wasser
stehend
fummelte
er an
seinem
Joseph.
 
... Existenz ab. Denn Liebe war ihm der Genuss des Todes, hier und jetzt in allen Poren.

Und wie oft hat er der Geliebten im Wahnsinn seiner Liebe immer und immer wieder Shakespeare zitiert: »Es war die Nachtigall und nicht die Lerch, die eben grad dein banges Ohr durchdrang.« Und: »Nein, es war die Lerch, die Tagverkünderin. Bleib hier, Geliebter«. Momente, in denen Asche alle Rollen übernahm.

So voll von Liebe war er, dass ihm das nicht ausreichte. Er kam auf Aischylos, Euripides, Sophokles, Goethe, Büchner, den tragischen Lenz, Brecht, den Whisky trinkenden Müller und am Ende eben auf das Schicksal überhaupt, dass der Mensch sich in seiner Tragik verdient hat. Dass er nicht raus kann aus der Rolle der Verdammnis, dieser kleine zweibeinige Hybrid. Und das machte Asche sympathisch, ehrlich, süß.

Er hatte Frauen, mit denen er in Liebe war, die trugen einen riesigen Sack Energie von ihm mit fort. Bei manchen hat es für Jahre gereicht. Bei Asche eben nur für Wochen. So schnell das gigantische Gefühl der Liebe und des Begehrens kam, so dumpf stand er irgendwann neben sich, nichts mehr spürend, wieder zu sich kommend, Zeit auch wieder für sich in Anspruch nehmen müssend, weil doch er auch atmet, riecht, spürt. Oder, um es mit Büchner besser zu sagen, »es in ihm hurt, raubt und mordet«. Ja, dafür fehlte Asche Zeit. Es war Zeit, die er brauchte. Die Energie war erschöpft, das Kraftwerk auf null, die Geliebte auf einer Kompliziert-sein-Tour.

So war es einst. Heute hält er nicht mehr viel von Liebe. Ihm sei das zu anstrengend, sagte er einmal bei guter Laune.


Aber warum rede ich von Asche? Wer bin denn ich?
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